ZeitenWanderer Heimat von BLACK MAMA
ZeitenWanderer Heimat von BLACK MAMA

Bad Oldesloe

Endstation im HVV Nahverkehr


 


 

Thriller

 

Adana / Abendrot

 

PROLOG

Ein paar der vielen Uhren schlagen elf Uhr dreißig in dem zu dieser späten Uhrzeit annähernd dunklem Trödelgeschäft mit geballt viel Tinnef, Spielkram und Regalen bis zur Decke. Sachverständige Kunden können hier einen durchaus erheblichen Gegenwert erhalten. Was man dem Schaufenster nicht ohne weiteres ansieht, weshalb tagsüber immer noch Leute aufschlagen, die hoffen, der Trödler darin würde selbst in Internetzeiten mit Bildersuche nicht wissen, was er da besitzt und zu welchen Preisen es angeboten und zu welchen es tatsächlich an reale Personen verkauft wird. Ein Umstand, der schon geholfen hat, manches Plagiat, Fehlkauf und Plunder blitzschnell wieder an gierige Deppen zu verhökern, solange es nur aussieht wie frisch angekauft, noch bevor jemand aus dem Laden es recherchieren konnte. Der alte Hartuch hat demonstriert wie es geht, aber sein einziger Angestellter hat einfach nicht das richtige Händchen dafür.

Im Licht der gelben Straßenlaterne, die durch die großen Schaufenster von der anderen Straßenseite herein scheint, reflektieren winzige, sich drehende Werbetäfelchen, was schwache gelbe Strahlen durch den Laden schickt. Sie sind Teil einer kleinen Tankstelle, bevölkert von ebenso kleinen Kunststoff-Figuren, mit einer ausgeleuchteten, detailreichen Wohnung darüber, in der gerade ein üppiges Frauenzimmer die Gardinen zuzieht. Seit einer Woche, immer kurz vor Mitternacht kommt ein Obdachloser der untersten Schicht vorbei, mit krummen Rücken, zugewuchertem Gesicht und offenbar ohne Zähne. Wie immer bewundert er ein paar Minuten das Schauspiel, in denen er für Sekunden heiter wirkt.

Anton am Tresen beugt sich vor, um zu sehen, wer welche Teile seiner Auslage bewundert, bevor die Gestalt dann wieder weg hastet, als hätte Mutti das Kind vor dem Mittagessen an der Keksdose erwischt.

Im Hintergrund des Ladens hängen Filmplakate und Blechschilder, in den eng bestückten Bücherregalen sticht ein Tropenhelm heraus und eine von der Decke hängende, ausgestopfte Wandertaube runden die in diesem Straßenlicht noch erkennbaren Gegenstände in der Finsternis des kleinen Geschäftes ab. Alles schwelgend in einem ganz eigentümlichen Geruch, ausgehend von den im Hintergrund gehaltenen wirklich alten Büchern in oft brüchigem Leder, mit echten und falschen Bündchen, in marmorierter Pappe der Zeit oder gleich als Interimsbroschur, Bände, die seit Jahrzehnten und Jahrhunderten niemanden gefunden haben, um ihnen den finalen Einband zu spendieren.

Wobei ‚alt‘ dabei sogar ganz wortwörtlich zu nehmen ist.

Nur - was eben alt ist für einen Menschen, ist es so gar nicht für ein Buch.

Euer Anton, der sagt es euch immer wieder! Um 1860 kamen in Westeuropa die Manufakturen in Schwung, direkte Vorläufer der bald folgenden Fabriken und Rotationsmaschinen. Was an Buch nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/1871 hergestellt wurde, ist definitiv nicht ‚alt‘, sondern fast immer Massenware. Wer also hier hereinkommt und »total alte Bücher so um 1900 und noch davor« anbietet, hat sich zumindest in diesem Metier umfassend als ahnungslos identifiziert. Womit sich die Spreu vom Weizen trennt.

Das hölzerne Telefon mit Wählscheibe klingelt. Ein origineller Nachbau, bei dem der schwergewichtige Hörer tatsächlich noch auf Gabeln liegt. Aber um diese Uhrzeit ist Anton nicht mehr neugierig. Entweder es schnauft jemand oder es ist rein gar nichts zu hören oder ein Besoffener lallt. Wie immer also. Die einen Leute, die hier hereinschneien, sind gutmütig und bleiben beratungsfähig. Wahrscheinlich Beamte mit Geld, die den letzten Rest einer Erbschaft hier auflösen. Die anderen, Freiberufler, Selbständige, Arbeiter, kleine Angestellte und Rentner in Existenznot sind beleidigt, wenn Anton ihnen erklärt, warum er die angebotenen Artikel nicht einmal geschenkt haben möchte. (Wegen der Entsorgungskosten.)

Für diese Klientel hat er einen Auszug aus den Gelben Seiten in Hamburg (zwanzig Kilometer südlich) und einen aus Lübeck (zwanzig Kilometer nördlich) fotokopiert, die er ihnen überreicht, um ‚geholfen zu haben‘. Der nachfolgende Verweis auf das riesige Sparschwein auf dem Tresen bleibt regelmäßig unbeachtet.

Aber dieses Geschäft ist ein Wirtschaftsunternehmen. Was bedeutet, der Inhaber muss davon zuerst seinen eigenen Unterhalt bestreiten, nicht den irgendwelcher Wildfremden finanzieren.

Diese Information scheint regelmäßig die eine oder andere Person im Ort vollständig zu überrumpeln.

Anton Abendrot hat heute einen schwermütigen Abend. Schließlich hat er nur deshalb ein ganzes Jahr in diesem Drei-Affen-Trödelladen verbracht, weil er hoffte, hier den einen, ganz großen Enthüllungsartikel schreiben zu können.

Aber außer seinen Lockerungsübungen in Form von wenig beachteten Blog-Beiträgen hat er hier praktisch überhaupt kein für eine Zeitung, Blog oder auch nur Toilettenwand verwertbares Material ansammeln können, was ihm heute Abend ganz besonders zu schaffen macht, weil sein selbst gesetztes Zeitlimit endgültig ausgeschöpft ist. Heute Abend noch müsste er die Kündigung schreiben, um pünktlich diese Anstellung aufgeben zu können. Unabhängig davon, ob der alte Hartuch nun anwesend ist oder sein wird, wenn er die Tür endgültig hinter sich schließt.

Wie immer in solchen Momenten zieht Anton sich selbst am Pferdeschwanz, als wenn das eine mechanische Reaktion auslösen würde, die die Nuss knackt.

Jetzt aber bloß schnell raus, bevor es Mitternacht ist und wieder alle Uhren auf einmal loslegen.

Afrika

Vincent Ormano, schlanker Allgemeinmediziner, ehemals dunkelblonder Mitteleuropäer und charmanter Langzeit-Weltreisender, hat über die letzten Jahrzehnte viele kleine und große Erkenntnisse gesammelt. Eine davon ist, man soll sich nie einmischen, wenn zwei sich streiten.

Das dürfen höchstens Frauen, wenn sich Männer an die Gurgel gehen.

Wenn überhaupt.

Eine weitere nützliche Erkenntnis, vor allem in diesem Streifen Afrikas, ist, moderne Munition, die mehr, schneller und weiter trägt, schon am Klang unterscheiden zu können. Freudengeballer zu einer Hochzeit etwa kommt aus alten Gewehren, mit Kugeln, die sehr schnell wieder herunterfallen. Man sollte zu solchen Einladungen also zu spät kommen, einen guten Gott haben oder schlicht wegbleiben.

Vincent kommt immer reichlich zu spät. Ärzte dürfen das.

Wer hingegen moderne Munition einsetzt, besitzt die moderne Waffe dazu. Derjenige knallt nicht aus Freude und meist schneller als irgendeine Frau oder unvorbereitete Armee einschreiten könnte. Wie etwa die lokale Palastwache, die mit ihren Dekorationsgewehren von jeder besseren Straßengang überrannt werden könnte.

Wie Vincent wohlbekannt ist.

Das weiß natürlich auch der Präsident, der aber aus durchaus begründeter Furcht von Leuten in seiner Nähe zuerst niedergemäht zu werden, auf dieser Art von Schutz durch Abrüstung bestanden hat. Er selbst ist ein exzellenter Pistolenschütze und demonstriert diese Fähigkeit auch gern und oft vor seinem Personal. Zudem ist er Sammler von Pistolen und Revolvern und hat diesbezüglich viel Sachverstand angehäuft.

Nicht zu vergessen ist, sein Büro, sein Schlafzimmer und selbst sein Bad verfügen über geheime Ausgänge, die zu einem Aufzug und einer Tiefgarage mit gepanzerter Limousine führen.

Da der Präsident kein Idiot und auch nicht noch korrupter ist als seine Vorgänger, ist er auf der internationalen Bühne stets ein berechenbarer Partner, der zwingend an den Meistbietenden verkauft, solange die Drohungen der unterlegenen Bieter nicht gar zu überzeugend werden.

Alltägliches Brot für lokale Diplomaten, Neuland für europäische Regierungen, die lästigerweise häufig wechseln und darum laufend neue, alte Erklärungen einfordern, wie die Welt funktioniert, bevor das Geld wieder fließt.

Der Präsident, Kind Afrikas mit Ausbildung in Übersee, macht sich keinerlei Illusionen darüber, wie geheim seine Hintertüren sind oder was seine Gesundheit betrifft, wenn eine der mächtigen Parteien des Erdballs auf den Plan tritt und die bedingungslose Herausgabe der Landesschätze fordert. Der zweite Kalte Krieg wird in Europa noch empört geleugnet, als er in Afrika längst unübersehbar geworden war.

Vor zwei Jahrzehnten noch hätte der Präsident sagen können, »Die anderen Bieter wollen frech werden. Unterbindet ihr das oder ich muss doch noch an die anderen verkaufen!«

Henning Hartuch, in bescheidenen Farben in teuren Stoffen gekleidet, führt eine langsam altersfleckig werdende Hand zum Kinn, wo es nichts zum wegwischen gibt: „Heute geht das nicht mehr, weil die Parteien, von denen die Rede ist, erneut so brutal geworden sind, dass nicht nur Nordhalbkugel-Agenten reihenweise jung versterben, sondern selbst jahrhundertelange Verseuchung für die gierigsten Parteien gar kein Problem mehr darstellen. Der eigenen Bevölkerung gegenüber streitet man jegliche Beteiligung strikt ab, die nichts ist als die Propaganda diverser politischer Gegner.

So ist es inzwischen auf dem internationalen Parkett Konsens geworden, darauf zu verweisen, dass die doofen Bösen nicht mehr fair spielen, weshalb die Guten, wer auch immer das sein soll, dann auch nicht mehr daran halten können, woraufhin das Spielfeld in Afrika sich entsprechend schnell von Bevölkerung, Wildtieren und wirtschaftlich verwertbaren Pflanzen leert. Sogenannte Rohstoffe, Bodenerze, etc. folgen.

Praktischerweise entsteht die Verwüstung von Landstrichen so nicht durch ein einziges Großereignis, sondern unter Anteilnahme der Bevölkerung, die für diesen Zweck als Arbeitskräfte für Schubkarren und Prostitution eingeflogen wurde, für Facharbeiter, die aus der eigenen Nation der jeweilig bestimmenden Firma eingeflogen wurden und offiziell als Ausbilder fungieren, ohne ihrerseits je eine solche Qualifikation erworben zu haben.“

Vincent Ormano, auf dem Kopf so weiß, wie sein Gesprächspartner, ist mit diesem Landstrich durchaus vertraut. Da er ebenfalls Brille und eleganten Anzug trägt, allerdings in creme, hätte man die beiden vom Alter her für Brüder halten können. Keiner von beiden ist jemals lachend oder auch nur schmunzelnd im Palast gesehen worden. Es sind eben Profis. Entsprechend beantwortet Ormano dem Hartuch die Frage, ob jemand kommt, indem er einmal kurz seine Gürtelschnalle berührt. Höchstens auf sechs Uhr, also aus dem Gang an dessen Ende man steht. Die Wand hinter ihnen ist runde sechzig Zentimeter dick, mit Farbe, Bild, afrikanischer Kunst bestückt. Da wäre es eine Sünde, nicht auch ein paar kleine Trichter und Röhren einzusetzen, um im Raum darunter oder darüber zuzuhören, wer da was zu bereden hat. Wer im Palast nicht auffallen will, der sollte besser nicht zu harmlos agieren, weil das schnell als unhöfliche Geheimniskrämerei missverstanden werden kann, die sehr schnell in die Keller anderer Gebäude hinein, aber selten hinaus führen kann.

Wussten Sie, dass die Vorgängerregierung ihren damaligen Präsidenten und einen zufällig anwesenden Minister ins Grab stolpern ließen? In der Hoffnung so die Unruhe zwischen den Gier-Parteien zu stoppen und der lokalen Elite ungestörtes Weiterverdienen zu ermöglichen?

Die Unruhe legte sich auch tatsächlich, weil neue Entwicklungen in den sogenannten entwickelten Ländern alles änderten, so dass das Interesse an Sand praktisch über Nacht wieder zusammenbrach.“

Und heute von anderen Akteuren in den identischen Ländern für weitere Zwecke wieder höchst eifrig gesucht wird. Das vorauseilende Opfer war also unnötig gewesen. Ich wette, Geheimdienste auf der Nordhalbkugel finden das bis heute lustig.“

Des heutigen Präsidenten Sehnsucht, diesen Teil Afrikas vom etwas einseitigen Interesse der entwickelten Welt abkoppeln zu können, hat bis heute immerhin weitere knappe zwanzig Jahre seit der Abberufung seines unglücklichen Vorgängers gehalten.“

Tja, man darf wohl annehmen, ein Wagen in der Tiefgarage ist ebenso von den USA finanziert wie die Gänge, die dem präsidialen Schutz dienen. Naheliegenderweise soll diese Investition den jeweils aktuellen Inhaber des Präsidentenamtes kulant stimmen für Verhandlungen aller Art. Sogar schon den Vorgänger und heute eben den Nachfolger. Es ist also nichts persönliches, nicht wahr?“

Ach, ohne Amt interessiert sich von den großen Spielern niemand für ihn. Im Gegensatz zu den überlebenden Verwandten seiner Gegner auf dem Weg zum Palast. Ein Rücktritt, etwa durch Abwahl, kommt deshalb auch auf gar keinen Fall in Betracht.“

Ich kann seine Exzellenz verstehen.“

Vincent hat beim lokalen Polizeirevier beizeiten erkundigt, wer und von woher Hartuch ist und was in seinem Pass als Wohnsitz angegeben wird. Bei einem Anruf aus dem Präsidenten-Palast bekommt auch der Kammerdiener jede gewünschte Auskunft von jedem Revier.

Das ist nicht nur in Afrika so.

Die angefragte Information nach Hartuchs Wohnsitz lautete ‚Bad Oldesloe‘ in Deutschland. In einer launigen Minute hatte der Hartuch einmal seinen Herkunftsort, ohne ihn zu nennen, als ein Städtchen gleich einem verarmten Adligen, der alles Vermögen verspielt hat, beschrieben, ignoriert von zwei arroganten Großstädten und damit die perfekte Deckung. An dem Tag hatte Ormano sich Hartuch verbunden gefühlt, durchaus Meisterklasse, aber noch kein Künstler.

So wie Vincent Ormano.

Der Präsident selbst liest gerade hinter schalldichten Türen einem Minister die Leviten, was ein Risiko für beide Seiten ist, da man unterschiedlichen Bevölkerungen angehört, weshalb sie beide trotzdem um einen mehr oder minder Ausgleich bemüht sind. Sie beide haben bereits die maximalen Lebensziele erreicht und ausgekostet, waren nie zimperlich mit Gegnern, die ihnen gar zu lästig wurden. Die europäischen Vorstellungen von Rente, Gesundheitsvorsorge, Meinungsfreiheit, Urlaubswünschen, Work-Life-Balance usw. haben sie beide nie auch nur amüsiert.

Also wird weitergemacht wie eh und je und bis zum Schluss.

Aber an diesem Tag ist alles anders, denn Ormano hat Hartuch die nächste non-verbale Frage, ob man fliehen muss, soeben mit zwei gekreuzten Händen für Gewehre im Konflikt beantwortet.

Vincent Ormano, der sportliche Allgemeinmediziner und beliebtes Faktotum im Palast, der niemals läuft, nicht einmal zu einem Notfall, bestätigt das durch sein ungewohntes Verhalten.

Denn Vincent rennt die Flure entlang. Ebenso wie der zweite Europäer in diesem Palast, ein Herr Hartuch aus einem Kaff in Norddeutschland, nach eigenen Angaben ‚ein alter, völlig desillusionierter Sozialist‘. Derselbe Mann, der Sammlergeschäfte in vornehmen Präsidentenvillen macht und achselzuckend zugibt, „Luxus und Sozialkompetenz schließen einander nicht aus. Aber immer mit einem Ausweg. Immer mit einem Ausweg!“ Wobei er mahnend einen Zeigefinger zu heben pflegt, zur Unterstreichung dieser in höheren Jahren erworbenen Einsicht.

Auch Hartuch, derzeit Lieferant eines exquisiten Pistolenpaares einer italienischen Waffenschmiede vor 1900, weiß den Klang alter und neuer Munition sehr gut zu unterscheiden.

Gertenschlank und genauso schnell wie Ü60-Marathon-Läufer im Endspurt fliegen sie beide, Henning Hartuch und Vincent Ormano, Seite an Seite, durch die doppelflügelige Bürotür des präsidialen Büros, ohne einander, den Präsidenten oder den Minister auch nur eines Blickes zu würdigen.

Die Palastwache ist weder hilfreich noch ein Problem, da man vor der sehr hohen Tür, anders als im Inneren des Präsidentenbüros, Straßenlärm sehr wohl hören kann.

Unabhängig voneinander hatten sowohl Herr Ormano als auch Herr Hartuch schon im Vorfeld die Existenz einer Geheimtür angenommen und diese Annahme bestätigt gefunden, indem man nur dort nachsuchte, wo ein solcher Gang Sinn machen würde, also nicht zum Flur hin, nicht zum Garten und nicht zum Nachbarbüro. Wenn man dann noch eine gewisse komfortable Breite veranschlagte und den Öffnungsmechanismus etwa in Höhe eines Lichtschalters und breit genug für eine Panikattacke annahm, ergab sich schnell und zwingend, was man wissen wollte. Praktischerweise ist diese Geheimtür nicht nur unsichtbar in die Wand integriert, sondern auch noch aus kugelsicherem Stahl, mit einem elektromagnetischen Schnellverschluss von der anderen Seite, um potentielle Verfolger abzuhalten.

Die beiden Europäer sind schon durch die nicht gar so geheime Tür verschwunden, wobei der Drehmechanismus sich aus naheliegenden Sicherheitsgründen bereits endgültig verschlossen hat, bevor irgendeine Frage zu den beiden weißhaarigen, braungebrannten, drängelnden Euro-Läufern in schicken Anzügen mit guten Krawatten hätte durchdringen können.

Blitzartig greifen sowohl Präsident als auch Minister in die Zigarrendose, ziehen an den Havannas, die sie beide nicht mögen, reichen sich die Hände und werfen sich in bequeme Haltung. So soll es den Vorgänger und die damals Anwesenden erwischt haben, von denen es nur der damalige Präsident und sein Minister in die offizielle Geschichtsschreibung geschafft haben.


 

Philomenas Rückblick

Nördlich von Hamburg, im Orte Bad Oldesloe in Deutschland, einem Nest, welches heute auf rund eintausend Jahre schriftliche und rund siebentausend Jahre Siedlungsgeschichte zurückblicken kann, pustet Miriam Griesch, gerade leicht gereizt über ihre dekadent teure Sonnenbrille, weil ihr Mann gerade eine Bemerkung über ihrer beider Alter gemacht hat. Ganz jung sind sie jetzt nicht mehr, aber immerhin am Anfang ihres Erwachsenendaseins, jedenfalls irgendwie. Nur nutzen sollte man es.

Sie zupft sich am Bikini, stupst den Strohhut auf den weißblonden Haaren zurück und wedelt ihren verlängerten Rücken auf der Sonnenliege zurecht. Soeben hat sie einen großformatigen Umschlag mit den Absendern ‚Alexandra und Leandra‘ erhalten, ohne weitere Adressangabe zu diesen.

Diese Sendung wurde vor erst wenigen Sekunden zwei Stockwerke tiefer vom Briefträger eingeworfen. Der Postbote hatte bei der geschwungenen pour Philomena‘-Zeile auf dem Adressetikett erst gezögert, dann aber darunter auch noch ihren Heiratsnamen gesehen und schließlich den Umschlag in den ungewöhnlichen Briefkasten eingeworfen, der sich nach dem Öffnen wie eine Ziehharmonika erweitern lässt.

Von dort unten, der heute in schönstem Sonnenschein liegenden Straße, kann man weder den automatischen Weitertransport der Post hören, noch das nach oben verspiegelte, mehrfach abgestufte Glasdach auf dem Dachboden sehen. Dieses überspannt vier mal sechs Quadratmeter feinen Sandstrand mit zwei Sonnenliegen, wo derzeit neben Frau auch Herr Griesch mit Sonnenbrille liegt, unter einem mit Getränkewerbung bedruckten Sonnenschirm; alles gut getarnt gegen den jährlich vorbei schauenden Schornsteinfeger, weil der Zugang zu diesem Rückzugsort hinter einer Holzvertäfelung ohne sichtbare Tür liegt, da Schornsteinfeger nun einmal leider keiner Schweigepflicht unterliegen.

Ganz anders also als die Briefe versendenden Damen hinter den Pseudonymen Philomena‘, (die Kraft/Mut liebende), ‚Alexandra‘ (die fremde Männer Abwehrende) und ‚Leandra‘ (Frau des Volkes). Diese haben sich gegenseitig die Schweigepflicht als selbstverständlich auferlegt, ohne dass sie darüber auch nur ein Wort verlieren mussten.

Man kann dieses Verhalten, wenn auch etwas missverständlich, als einen Grad ihrer aller Professionalität verstehen. Missverständlich deshalb, weil andere spezifisch weibliche Pseudonyme wie Lucy Love‘, ‚Honey Heart‘ oder ‚Lady Whiplash‘ ebenfalls professionell und nicht nur allen Postboten und Schornsteinfegern sofort verständlich wären.

Über solche und ähnlich gelagerte Missverständnisse haben sich zwei der drei Damen hinter den alt-griechischen Pseudonymen soweit im perfekten Einvernehmen unterhalten, wie das nur möglich ist unter drei Frauen, die ursprünglich nur deshalb zusammen kamen, um einen einzigen Mann zu bespaßen, damit der sich aufrafft, eine Karriere-Kurve mit Fleiß und Inspiration erfolgreich zu nehmen.

Derzeit grinst und grunzt dieser Mann, bekannt als Gregor Griesch, in Badehose und Sonnenbrille vor ihr, weil er lieber die Sonne zum Lesen im Rücken hat, statt direkt in ihr zu liegen. Alles untermalt von leiser Beschallung voller Meereswellen und gelegentlich italienisch kreischenden Kindern, Radiofetzen und Stimmen von Passanten in verschiedenen Sprachen, abgerundet mit einem gelegentlich auftretenden Lüftchen vom Ventilator, hinter einem Vorhang von angefeuchteten Muscheln und Algen.

Fast wie Kurz-Urlaub am Mittelmeer, nur eben ohne andere Bad Oldesloer.


 

Kunst

In seinem höchst geheimen Log- und Tagebuch trägt Jon Willems, Inhaber der AHA Scr. Ltd. mit Sitz in den Niederlanden ein, was derzeit für ihn wichtig ist. Die zu warme, etwas biedere Kleidung, gehört nicht dazu, auch nicht die ausgedünnten, ergrauenden Haare oder die etwas krumme Brille. Wie gewohnt, beschreibt er sich selbst in der dritten Person, die im Hause ‚Fictor‘ genannt wird. Ursprünglich eine drängende Idee seiner Gattin, um die Frauen im Betrieb vor gar zu lebenshungrigen Männern zu schützen.

Damals haben sich alle ein Pseudonym ausdenken müssen, welches nicht im Telefonbuch gefunden werden könnte. Diese Gefahr ist im Zeitalter der Mobiltelefone längst gebannt, die Pseudonyme sind bis heute geblieben und erfreuen sich einiger Beliebtheit.

Wann immer Fictor eine Grenze erreicht, sucht er nach Überwindung, weil Fictor aber ein Mensch mit durchschnittlicher Begabung, ohne Genius ist, muss Fictor einen Weg gehen, der ihn in die Nähe von Genie bringt.“

Willems hält inne. Soll er das wirklich aufschreiben? Neuerdings lässt er Teile seiner alten Logbücher zu Romanen umschreiben, um ein weiteres Geschäftsfeld einzuhegen. Ach, egal. Er wird es tun. Es ist die beste Geschichte von allen und damit die einzige, die nicht veröffentlicht werden wird. Jedenfalls nichts zu seinen Lebzeiten. Aber vielleicht kann Freddy dann etwas davon haben. Falls er sich geschickt anstellt. Willems seufzt tief.

Dann ein Straffen, ein Räuspern, er biegt sich zu dem Tischmikro hinab, drückt den Knopf und macht die übliche Durchsage, wenn ein neues Projekt anvisiert wird. Am Ende wünscht er allen einen angenehmen Flug und bittet bis auf weiteres angegurtet zu bleiben.

De Jong im Nebenzimmer nickt an seinem Stehpult, Elena hat ihren Schreibtisch ebenfalls auf Stehhöhe hochgefahren, da derzeit kein Publikum zu erwarten ist, im Blickkontakt mit Xania nickt auch sie, die wie immer ernst wirkt. Wahrscheinlich wäre sie auch eine ausgezeichnete Kartenspielerin. Warum haben sie das eigentlich noch nie angedacht? Oder haben sie so etwas schon in der Vergangenheit irgendwo eingebaut? Elena tippt mit spitzen Fingern über die Tischoberfläche, fragt das Archiv ab, ob jemals in einem veröffentlichten Produkt ein Kartenspiel erwähnt wurde. Tatsächlich ist das nicht der Fall.

Fictor ist langsam heute, er hat noch nichts vorgelegt. Wieder ein Blick zu Xania, die ihr mit einem Blick zurück Geduld signalisiert. De Jong bewegt sich minimal an seiner Sitzstange als würde er heimlich Musik hören können. Wahrscheinlich hat er nur irgendeinen Rhythmusgeber an sich, der inzwischen die gleiche Wirkung auf ihn hat, ohne dass sein Gehör abgelenkt wird. Anders ist sein Dauer-Zahnpasta-Grinsen nicht erklärbar.

Willems schreibt immer noch im privaten Bereich, „Fictor kauft Kunstobjekte und bringt sie trickreich unter die miesen Leute, wo sich in Sachen Abhörung reichlich Erträge einstellen. Ein Geschäft, welches nur funktioniert, weil er inzwischen auf Überführung der Täter verzichtet und nie (mehr) versucht hat, denen etwas wegzunehmen. Denn als Spieleentwickler hat er eine andere, bessere Idee gefunden, um selbst davon zu profitieren und auf Missstände hinzuweisen, damit andere dann tätig werden oder auch nicht. Mal eine Behörde, mal eine Bürgerinitiative, vielleicht auch investigative Reporter, manchmal niemand. Fictor hat viel über Wut, Enttäuschung und das Leben als solches gelernt.“

Heute fällt ihm partout nichts ein. Wieder so eine schöpferische Leere, aber solche zu überwinden, sind sie ja gewohnt. Mal sehen, ob den anderen Figuren irgendetwas einfällt, um zu starten. Solange schreibt er einfach weiter im privaten Abschnitt. Seine Finger rasen über die nackte, rötlichgelbe Tischoberfläche.

Früher hat Gregor Griesch die Ideale von Fictor geteilt, aber wenn man künstlerisch-technische Spitzenarbeit ohne lästige Mitarbeiter und -wisser liefern will, dann bleibt kein Raum mehr für Politik, Geschichte und Juristerei in einer Fremdsprache.“ Er streicht den Namen und ersetzt es gegen ‚der Deutsche‘.

Früher war er ein prima Kerl. Aber die Spartaner wurden ja auch schnell verdorben und verweichlicht, wenn sie erst einmal in Athen angekommen waren. Seitdem er teuren Tinnef für Protzprodukte herstellt, ist er nur noch ein Kastrat vor irgendeinem Harem!“

Da! Es kann losgehen.

Willems wechselt in den Bereich für alle und hämmert es ein: „In einem Palast in dem es bei Todesstrafe verboten ist, den Eunuchen Drogen zu verkaufen, geht er mit seiner albernen Stimme die Reichen an: „Gib mir Geld für Süßigkeiten oder ich erzähle, du wolltest mir Drogen verkaufen.“

Willems schmunzelt und schreibt den verächtlichen Text noch einmal auf seine Tischplatte, umkreist das ganze Textgebilde und verschiebt es mit dem Zeigefinger in einen dünnen Rahmen auf der Tischoberfläche, womit es komplett verschwindet.

Schade, die Zeit ist schon wieder abgelaufen. Na schön, jetzt zwei Stunden Papierkram, Telefonate und interne Gespräche, dann wieder der kreative Part. Schauen, was die Köpfe bis dahin so produziert haben.

Im Nebenzimmer erläutert de Jong schon, durch die dunkle Brille schauend, die gerade noch die Augen dahinter erkennen lässt, den Werdegang der Firma. Immerhin soll Elena, kurz vor Ablauf der Probezeit als eine Art Bewährungsprobe, den Tag der Offenen Tür am Wochenende, also eigentlich Sonnabend und Sonntag organisieren. Was sie jetzt, drei Tage vorher, überraschend erfährt. „Die AHA Scr. Ltd. ist ursprünglich so etwas wie ein Veranstalter gewesen, die ihre eigenen und durchaus großen Shows präsentiert haben. Aber fast dreißig Jahre nach der Gründung sind die Darsteller und das Publikum älter geworden. Nach vielen unschönen Querelen sind heute eigentlich nur noch Brettspiele, neben immer wieder neuen Experimenten, das Hauptgeschäft geworden. Dieses aber doch relativ erfolgreich, auch wenn wir uns mit der Videospielbranche keinesfalls messen können, aber auch nicht wollen.

Völlig überlaufen, zu viel Gier, zu viel Müll.

Wir fördern ungestört Kupfer, während die Goldsucher sich gegenseitig umbringen und berauben.“ Wieder dieses larmoyante Lächeln. „Eines unserer ertragreichsten, ohne das populärste zu sein, Sie ahnen es, das ist ‚Hasardeur‘. Für skrupellose Geschäftsleute, Machtmenschen und solche, die es so gern werden würden.“

Ein ironisches Augenzwinkern nur um die Ambivalenz der Sache zu unterstreichen.

Bisher ist das fast allein Xanias Feld. Wir geben nur noch wenig zu, weil es ein Selbstläufer geworden ist, bis die Marktsättigung erreicht ist. Danach neue Projekte. Wir halten uns nie lange auf damit. Entweder es läuft länger oder es läuft nur kurz. Wichtig ist, dass jedes einzelne Projekt wenigstens keinen Verlust gemacht hat. Irgendwann kommt dann ein Hit oder eine Ergänzung, um bereits bestehende Spiele wieder mit neuem Leben auszurüsten.

Für ‚Hasardeur‘ etwa haben wir noch vor Ihrer Zeit ein Extra-Paket Perversion eingeführt, was natürlich als das ‚Kriminalelement‘ kaschiert ist, weil eine Art moralischer Instanz in Form von Polizei, Regierung und Justiz zwingend hinzukommt. Allerdings mit einem merkwürdigen Hang zu Korruption und Toleranz gegenüber jenen, die besitzen und bezahlen und entsprechender Verachtung für all jene, die es nicht tun.

Je nach Gemütslage ein Freifahrtschein für Weiße-Kragen-Verbrecher oder ein realistisches Abbild der Gesellschaft. Auf unserer gesonderten Verpackung steht, das Recht wäre nicht käuflich, aber menschliche Gemüter innerhalb von Justiz und Bevölkerung beeinflussbar. Das hat uns immerhin in die Universitäten des Landes gebracht. Teilweise sind wir Lehrstoff.“

Elena, schlank, fit mit blonder Pagenfrisur, in Bluejeans, Turnschuhen und heller Bluse, bedankt sich nickend. Vieles hat sie gewusst, das eine oder andere Detail war dann doch neu. Nur hat ihr leider dieser kurze Exkurs in die Firmengeschichte nicht wirklich geholfen. Sie kratzt sich einmal. Scheint nicht wirklich wichtig zu sein, dieser Tag der Offenen Tür, wohl eine seit altersher ritualisierte, längst lästige Pflichtübung, die man für den Inhaber leistet.

Ungehindert von Elenas Abgangsgestik setzt de Jong hinter ihrem Rücken fort: „Andere gründen eine Band, Willems & Freunde hatten damals dieses eine fette Spiel erschaffen. Da ging es, damals noch ganz ohne Ironie, Humor oder gar, wuhuhu, Sex. Stattdessen gab es Küstenschutz, Deiche, Touristen, Häuslebauer, korrupte Polizisten und einen, der es eben nicht ist. Alles lange vor meiner Zeit und heute stinklangweilig und widerlich belehrend.“ Ein Händeklatschen, ein Vergiss-es-Gesicht und noch eine wegwerfende Bewegung unterstreichen die Fehler der frühen Anfänge. „Aber je allgemeiner, also ohne konkrete Schuldzuweisungen etwa an die Polizei, das Brettspiel wurde, desto spielbarer wurde es und desto höher stiegen die Verkaufszahlen. Vor allem nachdem man auch Whistleblower, Drogenboss, Landstreicher, Häuslebauer, Hotelier von Touristen, einheimisches Wildtier oder gar Wunderkind sein konnte. Für Überraschungen in alle Richtungen war gesorgt. Welche davon man als positiv oder negativ ansehen wollte, hing vom Charakter oder der Stimmung der Mitspieler ab.“ Eine flache Hand oben, eine unten deuten in hebenden Bewegungen die Bandbreite an.

In der allerersten Ergänzungsvariante kam dann noch ein besonderer Gedanke hinzu: Unsterblichkeit, da man sofort wiedergeboren wurde – in der Regel als Mitgeschöpf, also Tier, etwas seltener als Mensch. War man als Person also überfahren, erschossen, ins Wasser gestoßen usw. worden, weil man unbedingt den Drogenboss oder Landstreicher spielen wollte, war man auch schon wieder da, wenn auch als eher machtloser Zeuge. Trotzdem gab es immer eine Möglichkeit, den anderen Mitspielern, je nach Lebensform, die Kabel am Auto durchzukauen, in die Schuhe zu urinieren, wahlweise Haustier oder Hausbewohner zu infizieren usw..

BT =

Bertram Abendrot

 

AT =

Anton Abendrot

 

ext. = Autorschaft unbekannt oder siehe Artikel

 

Details im Impressum