B. Abendrot
In rabenschwarzer, regenreicher Nacht leuchten verbogene Stahlträger im bleichen Licht sporadischer Blitze auf.
Betonreste eines einst gewaltigen Gebäudes ragen wie verfaulende Zähne zwischen sich seit Jahrzehnten langsam wieder ausbreitender Vegetation. Moos und Flechten haben Besitz ergriffen von diesem Riesen einstiger Kultur.
Doch mögen auch Kopf, Brustkorb und Bauch längst zerschmettert sein, der Leib, von der Gürtellinie abwärts, ragt noch tief in die Erde.
Dort herrscht noch immer reges Leben.
Ihre dunkle Hand klopft leise, aber doch deutlich genug an die Tür dieses etwas abseits gelegenen Zimmers. Mit der tief ins Gesicht gezogenen Uniformmütze könnte man sie leicht für so etwas wie die Paketbotin oder einfach eine beliebige andere Lieferantin halten.
Der junge, unerfahrene Hausmann von innen ist naiv genug, sich nicht zu wundern, nichts dabei zu denken, nicht zu fragen und sofort die Tür zu öffnen.
Ganz als wenn es nur Glücksbotinnen geben würde.
Sie kichert in sich hinein, als sie wohlgefällig ihr Opfer anblinzelt.
Sie weiß, daß er heute ganz allein und praktisch niemand in der Nähe ist, der Hilfeschreie hören würde.
Über die Tage und die Wochen hat sie es beobachtet, mit dem Plan gespielt und schließlich fest gefaßt.
Nun - nun ist die Zeit gekommen, den Lohn der Gier einzustreichen. Erklärungen vermeidend drückt sie ihrem Opfer klatschend ein breites Pflaster über den Mund und tritt ihm gleichzeitig in die Magengrube, daß ihm die Luft ausgeht.
Der wird so schnell nicht mehr schreien.
Der arme Trottel vergißt sogar jede weitere Gegenwehr!
Oder vielleicht will er es sogar so?
Schwungvoll verdreht sie seinen rechten Arm auf den Rücken. Ihr Opfer wird in das Zimmer geschubst, die Tür mit einem Fuß nicht zu laut geschlossen. Zwei sorgfältig geplante Bewegungen, dann liegt der vertrauensselige Hausmann auf dem Bauch quer über dem Bett.
Wonnevoll verpaßt sie ihm die klickenden Handschellen. Damit hat sie ihre Beute sicher und das unvorsichtige Opfer, dem noch sichtbaren Gesicht nach zu urteilen, weiß das auch.
Ha! Der ist scharf! Der will sie doch!
Etwas klingelt, wahrscheinlich irgendeine Armbanduhr.
In vergnügter Gier schnallt sie seine Beine links und rechts an den Bettpfosten fest.
Es klingelt schon wieder. Telefon? Egal!
Jetzt eine kleine Knabber- und Besichtigungspause - und dann die Klamotten, Herzchen.
Ihre Hand streicht über seine Oberschenkel. Mit einer Nagelschere verwandelt sie seine Unterhose in einen Tangaslip.
Sie zieht ihm noch ein paar eigens mitgebrachte rote Socken an. Findet sie total erotisch.
Das verschnürte Wesen auf dem Bett hat das Kämpfen aufgegeben und gleich, gleich wird sie es ihm geben. Sie stöhnt erwartungsvoll.
Der arme Hausmann liegt nur noch dort, erhitzt, leicht zitternd, duftend, angeschnallt aufs eigene Bett.
Sie öffnet ihren Gürtel.
Ob sie ihm das Ding mal auf den Arsch peitscht? Schreien kann er ja nicht.
Da weckt das ratternde Klingeln sie endgültig auf.
Sie kämpft noch dagegen an, in der Hoffnung den Traum zurückholen zu können.
Doch tief drinnen in der voluminösen Nachtwächterin in grauer Uniform hat sich ein frühes, gar nicht so ausgeprägtes Pflichtbewußtsein erhalten.
Sie schlägt die Augen auf und den Wecker aus. Schließlich hätte sie eigentlich gar nicht einschlafen dürfen. Aber in ihrem Körper? Mit den verbrauchten Gelenken?
Schnaufend nimmt sie die Beine vom Tisch, reibt die Augen, erhebt sich prustend, testet kurz die Stimme. Stöhnend schlurft sie zum Ansageautomaten, die Reste ihres Traumes noch einmal mit einem Satz gedachter schmutziger Vokabeln aufwirbelnd.
Lustlos drückt sie auf den Knopf für die Ansage. Vorweg quäkt ein schrilles Pfeifen durch die Gänge, elektronischer Überrest eines früher angenehmen Dingdongs, gefolgt von einem mauligen "Die Keller-Verwaltung wünscht allen Handy-besitzenden Einwohnerinnen geschwindes Aufstehen."
Vierminütige Störgeräusche folgen, weil sie wieder das Mikrofon nicht richtig eingehängt hat. Hospitalias hochzivilisierte Bevölkerung schwarzer Frauen, mit den paar hellhäutigen dazwischen, erwacht.
Wir schreiben das Jahr der Dame 2048.
Das hochentwickelte Zeitalter in welchem die Bürgerinnen von einst menschenfreundlich "Patientinnen" genannt und gleichermaßen gehegt, geflegt, überwacht und kontrolliert werden.
Es ist das Zeitalter effizienter Raumnutzung, mit hoher, dem Menschen dienender Technik, etwa elektrische Zahnbürsten, Elektrorollstühle und Betten mit Kipptechnik seitwärts und rückwärts.
Wo man die Türen zum Verlassen eines Ganges daran erkennt, daß sie aus Metall sind, während man die Zimmerzugänge anhand ihrer Nummern unterscheidet.
Hier, in diesem hochmodernen Hospitalia, ward ein alter Menschheitstraum längst schon wahr: Für genügend KVK`s (Krankenversicherungskarten) kann man nicht mehr nur eine neue Niere, sondern gleich den kompletten Körper erwerben. Altes Hirn - neuer topmodischer Körper!
Ein Umstand, der Hospitalias weibliche Bevölkerung, von Ausnahmen abgesehen, immer jünger, schlanker und dunkelhäutiger werden ließ.
Diesem medizinischen Fortschritt, und weil Hospitalias Frauen Einkaufen Spaß macht, ist es zu verdanken, daß auch ihre Männer inzwischen ausschließlich schwarzhäutig sind.
Männer mit heller Haut existieren nur noch in der Sage.
Wie etwa in dem düsteren Volksmärchen, in welchem ein böser weißer Geist durch die Gänge huscht und von Zeit zu Zeit all jene auffrißt, die widersprechen, ungehorsam sind oder die Bettlaken beschmutzen.
Ja, Männer, zumeist genutzt als Organspender auf Abruf, haben die eigene Blütezeit weit hinter sich gelassen.
Alles, was sie in Hospitalia noch bewegen, sind Standfahrräder, an welchen sie sich als strampelnde Stromproduzenten nützlich machen.
Ella, siebenjährige Tochter aus dem Hause F., hat gelernt, sich die Sage vom weißen Männergespenst zunutze zu machen. Gerade hat sie ihrem sechsjährigem Bruder das Set Buntstifte weggenommen, weil sie ihr eigenes gegen Süßigkeiten eingetauscht hat. Wie immer traut sich ihr Bruder nicht zu widersprechen. Er weiß, daß er am Nachmittag wieder eine kurze genervte Gardinenpredigt zu hören bekommen würde und das alles verzeihende: "Aber was soll`s, du bist ja nur ein Junge."
So gesehen, verstand er es schon mit seinen sechs Jahren, daß seine Schwester wahrscheinlich etwas viel Schlimmeres zu hören bekommen würde. Kein "Was soll`s?". Insofern ist seine Schwester eigentlich sehr klug und er kann sehr stolz sein, daß er eine so kluge Schwester hat. Später würde sie ihm bestimmt helfen, wenn sie älter und keine Kinder mehr sind. Dann würden sie nicht mehr spielen "Wer hat Angst vor dem bösen Weißen Mann?" Dann wäre es bitterer Ernst.
Seine Schwester hat ihm erzählt, daß man dem in jedem Gang begegnen könne, wo er einem den Zauberfinger zeigen würde. Anschließend würde man einfach gefressen werden.
Nur wenn er sehr viel Glück habe, müßte er für den Rest seines Lebens im finsteren Keller verbeulte Bettpfannen wieder ausbeulen. Oder was noch viiiel Schlimmeres.
Aber dann würde sie ihm bestimmt helfen. So wie Rocky Hood im Märchen, der auch allen Unterdrückten und Schwachen hilft.
Vati lacht immer nur, wenn er das hört. Er meint, daß die Mädchen immer alles in Hospitalia bekommen. Aber du, du wirst irgendwann sehr schnell nur noch ein altes, runzliges Männlein sein, so wie der Zwerg aus dem Märchen, sagt Papi immer. Die Zwerge, das seien alles weggeworfene Männer.
Er will nicht weggeworfen werden. Nicht mit seinen sechs Jahren und auch nicht später. So wie Papi will er werden.
Na also, knurrt Papi dann jedesmal.
Leise erst, dann immer lauter werdend krabbelt es und scharrt, es kratzt, zischt und zischelt. Hospitalia erwacht!
Heerscharen an Vorgesetztinnen treten paarweise, allein oder in Trauben auf die Gänge. Vorgesetzte, die sich von normalen Patientinnen mit hochhackigen schwarzen Stiefeln, Epauletten, goldenen Knöpfen, schwarzen Schirmmützen und schärferer Gangart deutlich abheben.
Zur weiteren Unterstreichung solcher Hoheit tragen vor allem mittelhohe Ränge gern noch zusätzlich Gummihandschuhe.
In diesem Stadium eines erwachenden Tages bleibt jede nicht völlig orientierungslose Patientin vorsorglich auf dem Zimmer. Die, die hier einmal Ärger gemacht hat, kann sich gleich als Sklavin melden. Ruckzuck, ist sie ihr Zimmer los und kann bestenfalls noch ihr Bett auf dem Flur wiederfinden - immer vorausgesetzt, man würde es ihr überhaupt mitgegeben haben. Und dann - spätestens nachts, wenn "die Putzen", kriegerisch geschmückt, mit starken Strahlern auf blau-stählernen Säuberungswagen mit eisernen Vernichtungsklauen durch die Gänge schieben und stieben, ist sie ohne Zimmer und Bett gnadenlos geliefert! Zwischen dröhnenden Wisch- und Aufnahmerotoren zerlegt es sie in Einzelteile. Vorbeilaufen wollen zwecklos. Die Dinger füllen den ganzen Gang und das bis zur Decke.
Gelenkt werden sie von einst vierbeinigen Abkömmlingen ehedem bekannter und beliebter Haustiere. Heute nennt man sie Katzfellies.
Schaudernd nur und ängstlich flüsternd raunen es die älteren Kinder den jüngeren ins Ohr: Das Motto aller Putz-Katzfellies, wie es von den Säuberungswagen düster leuchtet:
Zuerst -
kannst du damit spielen
Anschließend -
kannst du es essen
Gegen "die Putzen", wie sie nicht liebe- aber äußerst respektvoll genannt werden, hätte vielleicht noch jemand aus der Verwaltung Chancen. Doch die sieht man nie auf den Gängen, was, so gesehen, vielleicht auch etwas Positives ist.
Kurzum, als normalsterbliche Patientin weiß man eben, wann das Maul zu halten ist und wann man sich gleichzeitig vom Gang zu machen hat.
Selbst an einem Feiertag wie diesem, wo die Verwaltung einen weiteren entscheidenden Schritt erreicht hat zur höchsten Stufe menschlichen Glückes: Die Ankündigung der Telek AG!
Von Plakatwänden leuchten zwei gewaltige sich schüttelnde Hände. Unterzeile:
Wir besiegten die Keime, die Viren, die Bakterien und die Bazillen! Und nun die endgültige Sterilisierung ALLER Schlechtigkeit im Menschen!
`DeinTelefon´ und `Strom Für Mich´ sind nun eine Firma geworden.
Freu dich!
HURRA! scheppert es jetzt auch in schlechter Akustik aus den Handies: Die Verschmelzung der einzigen Telefongesellschaft mit dem einzigen Stromkonzern ist geboren und heute darf auf allen Gängen bis 17.24 Uhr gesungen, gefeiert, getanzt und gelacht werden. Und, hey, für den Nachmittag ist in der Vorhalle sogar ein Bläserchor angekündigt!
Stöhnend erwacht Emilio, sein kurzes, lockiges, tiefschwarzes Haupthaar ausgiebig schabend. Vorsichtig versucht er, seinen zusammengekrümmten einssiebzig Körper in eine halbwegs flexible Ausgangsposition zu bringen, was ihm in der Enge und Dunkelheit nicht gelingt.
Sein Pappkarton verhindert jedes wohlige Ausstrecken, aber da er als Mann im allgemeinen und wegen akuter Zahlungsschwierigkeiten im besonderen weder Zimmer noch Bett sein eigen nennen darf, rettete er sich eines Tages, auf der Flucht vor den Putzen, in eben dieses Gebilde hinein.
Seitdem lebt er in Symbiose mit ihm, dem vielseitigen Pappkarton, den er abwechselnd als Schlafgelegenheit nutzt, oder als diskrete, nur persönlich zu übergebende Lieferung an nicht existente oder definitiv nicht anwesende hohe Tiere zustellt.
Damit gewinnt er sich Nacht für Nacht, manchmal über mehrere Tage hinweg, ein sicheres Plätzchen auf Hospitalias Fluren.
Seine bestimmte Art und sein auch als Reklame zu verstehender Hinweis darauf, ein nun wirklich diskreter Sicherheitsdienst zu sein, verschafften ihm bisher noch immer die Erfüllung seiner bescheidenen Wünsche und eine gute Ausrede, weshalb er nicht sagen könne, wer denn dieses Paket geschickt habe.
"Verschwiegenheit ist unser Geschäft", ein phantastischer Slogan und eine prima Erklärung, um nie erläutern zu müssen, weshalb er stets ohne Elektro-Rollstuhl kommt, keine Nachricht hinterläßt und das Paket immer wieder mitnimmt.
Zuweilen springen, angesichts dieser beeindruckenden Professionalität, sogar Mahlzeiten oder kleine Getränke heraus.
Leider oft genug auch völlig unerwünschte und unbezahlte handwerkliche Tätigkeiten.
Um nun etwas Licht und Zeit für seine persönliche Erweckung zu gewinnen, schaltet Emilio, sich keuchend im Karton drehend, das Handy ein.
Entnervt wartet er diese ihn immer wieder aufs neue verärgernde Meldung "Beer and Tequila forever" ab und projiziert seine personalisierte Nachrichten- und Postzusammenstellung gegen die Decke.
Eine Erfindung, die es erst seit kurzem in Hospitalia gibt und als ganz großer Renner gefeiert wird: Statt Zeitungen auf Tuch oder Papier zu erhalten oder von großen Wänden ablesen zu müssen, kann sich eine jede ihre elektronischen Nachrichten selbst zusammenstellen und dann auf das eigene Handy kommen lassen.
Anschließend liest man den Kram auf dem schmalen Display oder mit Trick 17 von einer gegenüberliegenden Wand ab.
Zwar mäkeln Kritikerinnen herum, daß dieses keine Großzügigkeit seitens der Verwaltung wäre, sondern eher dazu diene, elektronisch die gelesenen Nachrichten erfassen und auswerten zu können, aber das tut der Begeisterung an dieser Art der Nachrichtenempfängnis keinen Abbruch.
1 x Private Post: Fristablauf,
5 x Zeitungsausschnitte, Topthemen;
Geld oder Leben!
$TELEK AG - leiden oder löhnen
$Laßt sie bluten - Rendite beim Blutvertrieb
Blut & Busen
« Superservice! Jetzt läuft selbst das Licht übers Handy!
« Fertige Dankesformulare für die Verwaltung! Nur noch unterschreiben!
Brille & Krawatte
- Die Letzte löscht das Licht - Telek AG dominiert das öffentliche Leben
- Darf ein Tier Rechte haben?
FRAU HEUTE
o Die allerheißeste Adresse in Hospitalia - Strippers Show
o Warum sich die Inneren den Chirurginnen mit 12 zu 9 geschlagen geben mußten
ZeitenWanderer
]Die Verwaltung ist mit dir - ob du willst oder nicht
]Wie Katz, Hund und Geier aufrecht gehen lernten\}*#
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Emilio, der sich selber "Rocky" nennt, weiß, daß er dieses gewiß nicht tun wird. Genausowenig wie er ein "fertiges Dankesformular" unterschreiben würde. Ha, denen hätte er einiges zu sagen und zu schreiben! Aber nach Dank würde es wohl kaum aussehen!
Und wenn er es täte oder auch unterließe, in jedem Falle würden sie ihm sein Handy einfach einziehen und er solle sich doch ein neues kaufen.
Seufzend läßt er seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen ....
Der Vorbesitzer des Handies, mit der Information konfrontiert, daß Rocky von Emilios Detektivbüro käme, es also keinen Sinn hätte, auch nur den Versuch zu unternehmen, ihn anzuschmieren, gestand damals kleinlaut ein, daß sich irgendwann, niemand wisse wie und wann und warum und wieso ...
Also, daß sich irgendwann, aber mit Sicherheit bei einer der anderen Vorbesitzerinnen, ein prähistorischer Computervirus eingeschlichen hätte. Hin und wieder störe der wohl ein wenig.
Es könne aber auch etwas ganz anderes sein und er würde sich freuen, Rocky das Handy schenken zu dürfen und vielleicht könnten die von der Verwaltung helfen und im übrigen sei er jetzt furchtbar beschäftigt und gleich ginge das Volleyballspiel los und er habe weder Schokolade noch Amaretto für seine Frau beschafft. Das müsse er jetzt ganz dringend erledigen, sie sei sonst ungehalten, nichts für ungut und Nimmerwiedersehen.
Der Typ wußte schon, warum er dich loswerden wollte, knurrt Rocky das Gerät an, mit der flachen Hand darauf einschlagend.
Dann werden ihm unverlangt Texte von "Brille & Krawatte" übertragen - die, die ihn am herzallerwenigsten interessieren.
Er ist nach wie vor nicht recht wach.
Brille & Krawatte
Unerklärlicher Männerschwund
Die ohnehin niedrige Quote in Sachen Männern ist weiter nach unten gegangen. Letzte Woche sind wieder vier Exemplare offensichtlich endgültig verschwunden. Ursachen und Gründe werden von der Verwaltung ("Die Ermittlungen laufen noch") bisher nicht bekanntgegeben.
Rocky jammert im Geiste, daß er nicht die anderen Magazine ziehen konnte, die die er
sonst immer am Morgen zu lesen pflegt.
Kurz, knapp, einfach, faßbar muß es sein - oder verboten, wie "Frau heute", wo du über dein blödes Handy gecheckt wurdest, ob du auch wirklich weiblichen Geschlechtes bist.
Denn nur weil Männern zugestanden wird, überhaupt ein Handy besitzen zu dürfen, heißt das schließlich noch lange nicht, daß sie deshalb gleich alles damit machen dürfen!
Wer weiß, was die dann damit alles für einen Schweinkram anrichten?
Der einzige Pluspunkt dieses Schrotthandies - es ist so alt und desolat, daß das Leseverbot für Männer noch nicht greift ...
Rocky kichert irre.
Schmatzend wendet er sich wieder dem Display zu. Diesen blöden Quark von Brille & Krawatte holt er doch eigentlich nur, wenn die anderen ihn noch nicht erschöpfend genug gelangweilt haben. Oder falls er einmal keine Arbeit hat. Was allerdings so gut wie immer der Fall ist.
In der Tat sind es sowenige Aufträge, daß er, wann immer er nach Beruf und Name gefragt wird, sich dieses "freiberuflich" angewöhnt hat. Der Name, ja das ist eine Geschichte für sich.
Der kam nämlich ursprünglich aus einem uralten Musikstück, wo er sich nur eine einzige Zeile merken konnte. Der Titel war "Rocky Mountain Music" oder so ähnlich.
Als dann so ein Kamel wieder einmal energisch nach seinem Namen fragte, da hatte er immer noch diese blöde Melodie im Kopf.
So ward aus Emilio "Rocky Mountain", was er später auf das prägnantere "Rocky" verkürzte.
Er fühlte sich stark an jenem Tag.
Nur manchmal, wenn irgendsoeine Idiotin keine Ruhe gibt, in welcher Branche er denn nun freiberuflich sei, fällt es ihm ums Verrecken nicht ein.
So wechseln "Suchservice", "Überwachungsbüro", "Sicherheitsdienst", "Begleitstudio" und zuletzt "Detektei" einander ab.
Schlechtgelaunt schließt er die Augen, öffnet sie wieder, um den nächsten Artikel zu lesen.
Na prima! Eine ernsthafte Debatte über Pro und Contra der Sklaverei! Und eine Berechnung des Profites den man damit machen könnte, wenn man noch aggressivere Wege gehen würde und Hospitalias Untergang wäre nahe, wenn man das nicht täte, usw., usw., usw..
Offensichtlich von "Geld oder Leben".
Als wenn es nicht reichen würde, daß man diesen Tanten schon regelmäßig Blut spenden muß! Gereizt drückt er weiter.
Rocky haßt dieses idiotische Handy, dem man nie ganz klar machen konnte, was zum Teufel es eigentlich tun sollte. Ganz besonders aber haßt er es dafür, daß es ihm unerwünschte Texte präsentiert, die er auch noch bezahlen muß. Während die erheblich billigeren und vor allem gewünschten Sachen vom "ZeitenWanderer" nicht ankommen.
Kein Wunder, daß er jetzt so tief in der Kreide steckt!
Aber zur Vermeidung weiterer Schulden würde er sich erst einmal ein neues Handy kaufen müssen, was er sich bei all seinen Schulden aber nicht leisten kann.
Glücklicherweise ist es ihm inzwischen gelungen, in eine annähernd bequeme Haltung zu gelangen. Nun kann er problemlos die Arme über dem Brustkorb verschränken und die Beine angezogen halten, während er flach auf dem Rücken liegt.
Ein blödes Quiz und eine Art historischer Rückschau, Absender unbekannt erscheinen.
Rocky wendet das Gesicht und fühlt den sehnlichen Wunsch zu spucken.
Hurra - das lustige Handy-Quiz
Es ist bei Strafe verboten, die Verwaltung "faul", "dumm", "inkompetent", "dreist", "unverschämt" oder "willkürlich" zu nennen.
Die Frage dazu: Muß ich die Verwaltung verstehen?
Bitte wähle: Ja oder Nein?
Voller Wut beißt Rocky in das unzuverlässige Gerät und das erste Mal seit langem funktioniert die "Überspringen"-Funktion auf Anhieb.
Es folgt ein Haßartikel auf eine Tussi, die ungebeten und ungefragt eine ungekochte Erbse in Seramis-Blumenerde gesteckt hatte, um diese keimen zu lassen und ob diese Idiotin sich der Gefahr, der sie sich und alle anderen ausgesetzt habe, bewußt gewesen sei. Eine ungekochte, nicht weiter entkeimte, unsterilisierte ...
Die "Überspringen"-Funktion klappt schon wieder.
Erstaunlich. Aber jetzt .... yeah - der ZeitenWanderer!
Ein Freiabo für jeden!
Jeder 10. Abonnent bekommt seine Ausgabe gratis.
Idioten! Damit werden die keinen Leser mehr anlocken.
Aber versuchen wird er es trotzdem, vielleicht ist er ja zufällig der Zehnte.
Rocky entlastet sein verspanntes Gesäß, als endlich der erste sehnsüchtig erwartete Artikel eintrifft:
ZeitenW0)*#;
Urspru%g der Fellies
Wi+ Katz, Hund und Geier aufrecht ge$en lernten
Hätten Si# gewußt, daß Fellies ursprün~lich "Katz>n" und "Hunde" hießen und auf allen vieren liefen?
In der fernen Vergangenheit da fanden die Männer ihrer Tage, weiße Männer übrigens, keine Märkte und keine Kunden mehr. Doch verfügte man bereits über Gentechnik - Haustiere wurden wohl ni§ht zu den urspünglich anvisierten eierlegenden Wollmilchsäuen. Hunde und Katzen aber zu Menschenähnlichen 0&%&\`§.X quakten und jammerten, nach Spielzeugen, Süßigkeiten, weichen und warmen Decken und allerlei mehx§`?S$#+" Um diese aggressive Kommunikatonsfähigkeit bereichert, konnten sie ihren elternhaften, geldverdienenden, menschlichen Haltern jenes entscheidende bißchen besser auf die Nerven gehen.
So konnte dann doch der Markt erneut in Schwung gebracht werden, nachdem die Menschen eigentlich alles (und noch sehr viel mehr) längst schon hatten. Die Auswirkungen der früheren Marktwirtschaft gelten bis heute.
Nur die uns aus der Verwaltung so wohlbekannten Geie&% dien*-%+) Abschreckun&\`§.X
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Ha! Nicht nur daß die "Überspringen"-Funktion sofort wieder ihren Dienst eingestellt hat und er den meisten Mist sowieso gar nicht erst haben wollte, jetzt ist der ZeitenWanderer teilweise auch noch unlesbar!!!
Nur seine Adresse auf der Gegenseite, für die Abbuchung, die würde natürlich wieder ganz klar lesbar sein!
Und natürlich wird er auch heute von "Mann + Elektronikspieltzeuch" wieder nur die Werbung für die neue Ausgabe empfangen können. Sie ist, aufgrund der geringen Stückzahlen, einfach zu teuer.
So geistert Rocky dahin, in einer anderen Welt, in einer anderen Normalität, die nur er allein nachvollziehen kann.
Erneut schließt er die Augen, schaukelt von einer Körperhälfte auf die andere, um langsam die Blutzirkulation in Gang zu bringen.
Emilio, alias Rocky, öffnet die Augen wieder, massiert seine angezogenen Beine und blickwinkelt den nächsten Text. Lustlos, mit offenem Mund, gafft er die Decke an, um dort nun endlich seine persönliche Post anzusehen.
Leider wird es außerhalb seines Pappkartons gerade ziemlich laut.
Irgendeine Jubelparade zieht vorbei. "Viva la Telek AG" schmettert ein Chor, während ein anderer schon entgegenkommt und "Hurra, das Glück uns so nah" dagegenröhrt. Beide jeweils lauter werdend, je weiter sie sich einander nähern.
Rocky ist langsam echt geätzt.
Er möchte jetzt seine private Post lesen und noch einen Versuch unternehmen, den "ZeitenWanderer" komplett zu lesen.
Er atmet tief durch.
Doch Rocky wäre nicht er selbst, wüßte er nicht, wie man sich in entscheidenden Situationen durchsetzt.
Entschlossen wirft er die Perücke über und steckt sich die immer griffbereiten, zu Kugeln gekneteten Klopapierrollen in speziell für solche Fälle eingenähte Westentaschen.
Kurzer Stimmtest, die feminine Tonlage ist okay.
Wuchtig springt er aus seiner Kiste!
Brüllt gegen den ohrenbetäubenden Lärm an!
"Geheimer Sicherheitsdienst der Verwaltung!"
Welche Idiotin zwei Chöre in denselben Gang verdammt habe?
Das habe Konsequenzen!
Diese unglaubliche Sauerei sei direkt über das Spezial-Handy sowohl aufgezeichnet, als auch live direkt der Verwaltung zugespielt worden!
Rocky hält mit einer Hand sein obskur großes Handy in die Höhe, mit der anderen die Perücke fest.
Die letzten Töne von "Hurra, das Glück uns so nah" werden noch von den hintersten Chargen brav abgesungen, als sich bereits der "Viva la Telek AG"-Chor in heilloser Auflösung befindet und mit ohrenbetäubendem Gekreisch den Rückzug antritt.
Panisch schreiend folgt der andere Chor, der kein Wort von Rockies heftiger Rede verstanden hat, die Flucht der anderen aber als ein Katastrophenzeichen nimmt und nur noch schnell entkommen möchte.
Eine der beiden Chorleiterinnen, die den Unsinn sofort erkannt hat, weil sie zu den zahllosen Vorbesitzerinnen dieses Handies gehört, wird dabei hemmungslos überrannt.
Erst spät wird sie von den zuallerletzt nachfolgenden Sangesmaiden hinter die schwere Brandschutztür in Sicherheit geschleift.
Im schnurgraden, mit dunklem Linoleum ausgelegten Gang, mit Notenblättern übersät, herrscht wieder Ruhe.
Nur das Knacken und Knistern der Neonröhren ist zu hören.
Wiehernd und wieder bester Laune fällt Rocky in seinen Karton zurück. Wie die Idiotinnen gelaufen sind ...
Er wendet sich erneut seiner Post zu.
Private Post
Werbung
Auch Sie können ihn haben!
Den perfekten Busen!
Rocky stöhnt.
Hospitalia / Phon TELEK AG an Emilios Detektivbüro /
Betreff: An unsere säumigen Kunden - Fristablauf
Herr Emilio!
Nach der geglückten Verbindung von Strom- und Telefongesellschaft jetzt unter dem einheitlichen Namen "TELEK AG", können wir noch effektiver unsere Salden im Zaum halten und Negativkundinnen deutlicher begegnen. Gerade wir, als wesentlicher gesellschaftlicher Bestandteil, fühlen uns den Richtlinien unserer allseits geliebten Verwaltung verbunden.
Darum schließen auch wir uns aktiv der neuen Kampagne an, die da sagt: Nieder mit der Schlechtigkeit im Menschen!
Das heißt, daß wir nun nicht mehr nur, wie bereits in der Vergangenheit geschehen, Ihren Geldumgang gegebenfalls sondieren und Sie mit pädagogischen Maßnahmen etwa von überflüssiger Alkoholaufnahme, Kintoppbesuchen etc. zugunsten einer Begleichung ihrer Rechnungen fernhalten können; nein, jetzt sind wir zusätzlich noch in der Lage, säumigen Zahlerinnen über Stromabschaltung die Gleichgültigkeit gegenüber unseren Forderungen oft schon im Vorfeld zu nehmen.
Sollten Sie, Herr Emilio, nicht Ihre Bilanz bis heute, Mitternacht, positiv ausgeglichen haben und uns ein Kartenguthaben in der Höhe des von Ihnen gewünschten Telefonkredites zur Verfügung stellen ...
Rocky alias Emilio ist immer noch steif und verspannt, aber jetzt hellwach.
Diese Botschaft, die hat er verstanden.
Und nicht nur er, sondern auch noch jede andere Idiotin, die es wissen will, kann es jetzt schwarz auf weiß in seiner Post nachlesen.
Ha, früher gab es wenigstens noch elektronische Umschläge, damit nicht jeder Depp in deiner Privatpost herumschnüffeln konnte. Aber die hatten sie schon nach der ersten Vereinigungswelle abgeschafft.
"Verschlüsselung", das waren die elektronischen Umschläge, "ist ungeil" hatten sie getönt und "Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu verstecken", also darf es folgerichtig auch jede lesen, zuallererst die von der Verwaltung.
Hübsche Plakate gab es dazu, von lächelnden Damen, die auf ihrem Handy-Display ihren Kontoauszug und Tratschnachrichten vorzeigten.
Die Botschaft war scheiße, aber dieses Lächeln auf dem Bild - das fand er so stark, daß er sich damals eines von diesen Plakaten von der Wand gerissen hatte, um es wochenlang in seinem Pappkarton anzustieren. Irgendwann war es dann verlorengegangen.
Und heute - heute ist wieder so ein Trauertag.
Doch Rocky flucht nicht, gerät nicht in Panik. Im Gegenteil, ein Gefühl von Kampfbereitschaft durchzieht ihn.
Er hängt sich eine Lucky Lakritz in den linken Mundwinkel und weiß, daß dieses ein arbeitsreicher Tag werden wird.
Aus dem Handy quarrt Musik "Ich bi-hin eine Ka-hassenpa-hatienti-hin".
"Ich bi-hin ein Lueckenbue-huesser!" ergänzt Rocky angewidert den eigentlichen Refrain.
Läßt sich das blöde Ding jetzt nicht einmal mehr abschalten?
Das Gesicht von Haß verzerrt hackt er auf dem Gerät herum, versucht wenigstens die Lautstärke runterzuregeln. Alles vergeblich.
"Nu-hur die Ä-härztin - wa-heiß - was gut ist für mich."
"I-hich glaub' an die Weihnachtsfrau!" Endlich! Das Ding hat aufgehört zu dudeln. Schnaufend läßt er sich nach hinten fallen.
Irgendetwas fehlt Rocky an Energie, Anpassungsfähigkeit und Einsatzwillen für ein mehr oder weniger normales, angenehmes, ungestörtes Leben in einem WG-Mehrbettzimmer mit eigenem Lichtschalter und Klingelknopf.
Irgendetwas geht unter in einem Wust aus wilden Träumen, Überflieger-Ideen und absurden Hoffnungen, wer alles ausgerechnet ihn brauchen oder auf seinen Ratschlag Wert legen könnte.
Doch all diese Mängel sind sofort und vollständig ausgeglichen, wenn ihm das Wasser bis in die Nasenlöcher steht. Dann mutiert Rocky zum unverwüstlichen, selbstbewußten, Vertrauen erweckenden, mutgestählten, Papierbrillen tragenden, Respekt einflößenden Superagenten in eigener Sache.
Dann hält niemand die Lucky Lakritz so unnachahmlich wie er.
Und nichts hat er mehr gemein mit der unentschlossenen, zwar ehrlich bemühten, aber regelmäßig erfolglosen Fluse, die er für die wenigen seiner Kundinnen darstellt, die, von Ausnahmen abgesehen, im nachhinein seine Bekanntschaft schnell unter "Erfahrung" abhaken.
Hospitalias Freudentag beginnt für Frederico P. sehr hoffnungsvoll im frisch gewaschenen, einfarbigem Bademantel, mit gleichfarbigem Gürtel und goldenen Troddeln an den Enden. Dazu zweifarbige, neue Sandaletten, orange gefärbte Haare und ein blau bemaltes Gesicht.
Frederico P., Sohn einer Verwaltungsoberen, darf als erster Mann in Hospitalia studieren. Ein Umstand, welchen er in seiner Antrittsrede im Raum 7UWG, vormals Umkleidekabine, heute anderer Nutzung zugeführt, entsprechend zu würdigen weiß.
Leidenschaftlich ist seine Rede und gestenreich untermalt. Donnernd scheppert seine Stimme, daß eines Tages in ganz Hospitalia, auf allen Stockwerken, jeder Mann wie selbstverständlich studieren würde. Auch daß er natürlich dankbar sei, der erste zu sein. Er sei sich bewußt, so läßt er vernehmen, daß es nicht leicht sein wird, so ohne Professorin, Bücher oder jegliche andere Unterstützung. Andererseits wisse er die Freiheit zu schätzen, keinerlei Stundenplanbeschränkungen, Studiendauer oder gar Prüfungen unterworfen zu sein.
Was man ihm aber nicht zum Vorwurf machen dürfe, wo ihm doch klar wäre, daß er all dieses auch seiner Mutter und ihrem Einfluß zu verdanken habe.
Zugegeben, er sei ein Privilegierter, aber einer müsse ja den Anfang machen.
Na ja, nun wäre er der erste und einzige "Archäologie"-Student in ganz Hospitalia. Demzufolge sei er auch der beste, haha.
Doch er wird sofort wieder ernst: Falls aber jemand erwarte, daß er sich damit begnüge, ausschließlich dichtgestopfte Toilettenrohre auf ihre Vergangenheit hin zu untersuchen ... Also, sollte das jemand erwarten, das würde er nicht ausschließlich machen! Zwar auch, aber nicht ausschließlich, daß dieses mal klar sei! Da bitte er nun wirklich um Verständnis!
Und man vergesse bitte auch nicht, daß er nach fünf, sechs Jahren wiederkommen und beweisen soll, daß er etwas geleistet hat. Dann könne er ja auch promovieren.
Zum Schluß seiner Laudatio tritt er wuchtig ein paar Eimer um, die mit leisem Echo in die Besen, Bürsten, Lappen und Schrubber purzeln.
Erschreckt jagt er auf die Knie, sammelt, ordnet, glättet, richtet auf.
Ob jemand seinen Zornesausbruch verfolgt hat?
Aber er ist ganz allein in der Kammer, in welche ohnehin kein weiteres menschliches Wesen gepaßt hätte.
Er will ja kooperieren, denkt er sich, einen Feudel sauber faltend. Etwas erreichen im Leben. Das hat er sich vorgenommen und auch seiner Mutter versprochen.
Eben deshalb hat Frederico trotz allem seine Rede gehalten, weil es nun einmal Standard ist und jede eine Rede hält.
Was die Eimer betrifft, falls ihn jemand fragen sollte, kann er immer noch sagen, daß er gestolpert sei und er hat sie ja auch sofort wieder aufgehoben.
Als er auf den Gang hinaustritt, liest ein Zeitungsmädchen zum Zwecke der Werbung den vorbeiziehenden Passanten den aktuellen Leitartikel aus Brille & Krawatte vor.
Weil das ein sehr intelligentes Blatt ist und er doch jetzt Student ist, aber keine Professorin hat, der er die Wäsche nähen, die Tasche tragen oder den E-Rollstuhl waschen und abschmieren kann, gesellt er sich eben - mit ebenso ernstem wie aufmerksamen Gesichtsausdruck - dieser anspruchsvollen Lesung zu.
Aussterbende Gattung - der Mann
Neueste Erkenntnisse beweisen es, Männer sterben aus. In dreihundert Jahren wird es sie nicht mehr geben. Eine Teilgattung hat sich überlebt.
Ob es nun Meteoriteneinschläge waren, Streßfaktoren, eine Veränderung der Nahrungsmittelkette oder atmosphärische Störungen. Es ist nicht mehr aufzuhalten: Der Mann, wie man ihn heute noch kennt, stirbt aus.
Schon heute fängt man an, sich darüber Gedanken zu machen, wie wenigstens die nützlichen Eigenschaften mancher Männer für die Nachwelt gerettet werden können.
Schwierig aber ist genau dieses: Was ist seit der Erfindung elektronischer Schwellkörper mit und ohne Lustnoppen noch nützlich beim Mann?
Viel bleibt nicht übrig. Trotzdem versucht eine kleine Gruppe Wissenschaftlerinnen "wenn auch aus eher sentimentalen Gründen" die Erinnerungen und ein gewisses Maß an Emotionen und Seelenleben von Männern zu konservieren, indem man einen Teil aus dem männlichen Schädel in eine gehirnartige Masse kopiere, die dann praktisch wie der Urverstand funktioniere.
Leider sei dieses aber "wissenschaftlich gesehen" bedeutungslos, weil das Männerhirn Erinnerungen, insbesondere was eigene Leistungen und Fehlleistungen betreffe, schlecht konserviere. Also mit zunehmendem Alter "den Hang zum tatsächlichen Geschehen bis hin zur Irrealität verliere".
Man also, so gesehen, fürchten müsse, nur der Scherzartikel-Industrie zuzuarbeiten.
Emilio alias Rocky stemmt sich auf die Knie. Ausgelöst durch die letzte Mahnung der Telek AG, die gleichermaßen drastische wie schnelle Initiative angeraten erscheinen läßt, verordnet er sich einen totalen Ideenrausch.
Dazu krabbelt er aus seinem Schlafkarton und sucht einen besonders ruhig gelegenen Gang auf.
In Ermangelung von Möglichkeiten, Alkohol oder andere Rauschmittel zu besorgen, behilft er sich mit heftigem Tanzen und Herumspringen, begleitet von leider nur gedachter Musik sowie dem immer drückender wiederkehrenden Gedanken "ohne Handy nur ein Arschloch" zu sein. Und da ist sie - die Idee!
Ab sofort nennt er sich "Firma Nußknacker".
Den Laden erklärt er für eine Neugründung und hiermit auch den chronischen Kapitalmangel, weil man eben noch keine Zeit gehabt habe, Finanzierungsmittel aufzubauen.
Um nun endgültig den Geschäftszweck zu erfüllen, Kohle zu schöpfen, Profit, Profit, Profit zu machen, Knete in den Fingern zu reiben, die man anschließend ohne Reue aus dem Fenster werfen kann, greift Rocky jetzt hart durch!
Sein Jugendtraum, keine eigene Vorgesetzte zu haben, nicht angeschnauzt und permanent in den Hintern gekniffen zu werden, landet wie eine bekleckerte Serviette im Schmutzwäschekorb.
Ab sofort wird er sich, wiewohl nach wie vor der eigentliche Boß, in Zukunft nach außen hin nur noch als Telefonäffchen darstellen!
Wenn die blöden Kühe unbedingt einen weiblichen Chef haben wollen, bitte! Dann wird eben eine Tante mit schauspielerischem Talent für die Chefstelle eingestellt!
Hauptsache, die Aufträge rollen!
Zum Abschluß dieses Gedankens stampft er besonders heftig auf den Boden, mit im rechten Winkel vom Körper abgespreizten Armen und springt noch einmal besonders hoch an die zahngelbe Wand.
Dann geht alles sehr schnell: Landung auf dem Boden, Radio im Kopf abschalten, ernstes Gesicht machen, ein entschlossener Griff umklammert das Handy.
Die Finger fliegen nur so darüber und die Stellenanzeige ist draußen:
Starke Frau für starken Detektivposten gesucht,
stahlharte Nerven, Durchsetzungsvermögen
und Geldgier Voraussetzung,
schauspielerisches Talent von Vorteil
Selbst das Handy scheint am harten Händedruck die neue Botschaft seines Besitzers begriffen zu haben. Es funktioniert auf Anhieb und vollständig, was es seit wenigstens drei Monaten nicht mehr getan hat.
Zur Kontrolle "wie es denn so wirkt", läßt Rocky das Handy abschließend seine Anzeige vorlesen. Er ist begeistert. Obwohl es natürlich irgendwie schon ätzend ist, daß vorweg immer eine Werbung aus der Verwaltung ertönen muß:
Sei eine höfliche, sei eine gute Patientin!
Trage auch du die Vorrichtung gegen Mundgeruch.
Du schnallst es dir um den Kopf,
Den Druckschalter mit der angeschlossenen Sprühdose.
Machst du den Mund auf, wird der Schalter unter deinem Kinn aktiv.
Schon sprüht dir desinfizierender
(ekelhaft schmeckender und zuweilen das ganze Gesicht vernebelnder)
Duft in die Atemhöhle.
Lebe annähernd keimfrei!
Gib Tröpfcheninfektionen keine Chance!
In weniger als vierundzwanzig Stunden werden die Ordnungswüterinnen Hospitalias energischen Protest erheben, weil asoziale Elemente mittels dieser Apparatur ihr Gesicht im Augenblick gesetzeswidriger Taten verbergen könnten.
Minuten nach Aufgabe der Stellenanzeige klingelt Rockies Handy. Die erste Bewerberin erscheint auf dem Display: "Okay, Baby! Verschwinde aus der Leitung und verbinde mich mal gleich mit der Chefin!"
Rocky, wiewohl Detektiv von eigenen Gnaden und bereits mancherlei hartes Wort gewohnt, ist derzeit noch ungenügend auf seine neu gewählte Rolle als nur-noch-Sekretär vorbereitet.
Kaltlächelnd erwidert er: "Süße, der Boß hier bin ich!" und zeigt mit dem Zeigefinger auf seine schmale Brust.
Auf dem Display formt sich ein ungläubiges Gesicht, brüllendes Gelächter, der Bildschirm wird schwarz.
Und wieder klingelt das Handy.
Rocky, in seiner stahlharten Haltung leicht verunsichert, hebt ab und setzt ein zuckersüßes Lächeln auf. Von jetzt an wird aus Fehlern gelernt!